Seit über zehn Jahren macht sich die Frankfurter Initiative „Zukunft Bockenheim e.V.“ für dauerhaft günstigen Wohnraum in ihrem sozial und ethnisch gemischten Quartier in Bockenheim stark. Wichtiger noch: Sie ist Ansprechpartnerin für all die weniger Betuchten in der leuchtenden Metropole der Bankenhochhäuser. Immer mehr Luxus-Eigentumswohnungen privater Investoren sind in dem sich wandelnden Stadtteil Bockenheim in den letzten Jahren entstanden. Alternative, am Gemeinwohl orientierte Wohnideen dagegen scheiterten. Trotz „heftiger Rückschläge“ aber bleiben die Bockenheimer Projektmacher laut und wahrnehmbar. Und sie haben mit einem 60 qm großen Stadtteilbüro mitten im Quartier eine gut vernetzte, intensiv genutzte und für alle offene Anlaufstelle geschaffen.
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Es geht lebhaft zu auf der Leipziger Straße im Frankfurter Stadtteil Bockenheim, nur zwei U-Bahnstationen vom Hauptbahnhof und den bekannten Hochhaustürmen entfernt. Egal zu welcher Tageszeit; die „Leipziger“ ist Flanier-, Ausgeh- und Einkaufs-Meile eines quirlig-bunten Großstadt-Quartiers. Viele Radler, viele Fußgänger, viele Altbauten. Ob Studenten, Familien mit Kindern oder Senioren; hier leben und treffen sich Frankfurter unterschiedlichster Herkunft. Die Döner-Bude liegt gleich neben dem Asia-Imbiss, der Discounter neben dem Feinkostladen, das Cafe neben dem Biosupermarkt, der Stadtteilladen neben dem alternativen, graffitibesprühten Kulturzentrum.
Anette Mönich wohnt seit 35 Jahren in Bockenheim – schon immer in einer Wohngemeinschaft gleich um die Ecke der Leipziger Straße. Als langjährige Hauptmieterin gelang es der pensionierten Mediengestalterin erst vor wenigen Monaten, die Kündigung ihres Vermieters vor Gericht abzuwehren. Das Viertel ist ihr Zuhause, aber seine Entwicklung besorgt sie – und nicht nur sie. Wenn Anette Mönich mit Hund Freddy zum Einkaufen unterwegs ist, dann dauert das. Denn sie ist eine Art Kummerkasten des Viertels und immer gefragt. Gerade steht die 65jährige vor der Hausnummer 93 und schüttelt sehr energisch den Kopf. Das Haus wird nämlich gerade abgerissen. „100 Quadratmeter für 750 000 Euro“, raunt sie knapp. Das sind die stolzen Preise, die der Bauherr für die neuen Eigentumswohnungen, die hier entstehen sollen, anvisiert.
„Soll das die Zukunft Bockenheims sein?“ fragt ein Plakat im Schaufenster gleich nebenan. Es gehört zum Stadtteilladen der Initiative „Zukunft Bockenheim e.V.“ und – man ahnt es schon – Anette Mönich ist eine der Mitstreiterinnen dieses Vereins. „So was ärgert mich. Warum gibt es hier denn keinen Milieuschutz?“, sagt Mönich mit Blick auf die Abrissarbeiten. Nur knapp 100 Meter weiter kündigt sich ähnliches Ungemach für viele alteingesessene Bockenheimer an. Das so genannte „Tibethaus“ – ein inzwischen weitgehend leerstehendes, ehemals als Brotfabrik entstandenes und in den letzten Jahren für Wohnungen und von verschiedenen Institutionen genutztes Gebäude soll ebenfalls abgerissen werden. Und nicht nur das, auch die öffentliche Grünfläche davor soll durch eine Investorengruppe gleich mit bebaut werden dürfen.
Die Sorge ist klar und wohl berechtigt. Man nennt sie Gentrifizierung. Verdrängen Besserverdienende demnächst die ältere, weniger betuchte Bewohnerschaft? Oder schaffen es engagierte Bürger und Initiativen wie „Zukunft Bockenheim“ gemeinsam mit den Verantwortlichen der Stadt, die heterogene Mischung und damit das charmante, sozial gut gemischte, nachbarschaftliche Flair des Viertels zu erhalten?
Ein Blick zurück: 2006 schon gründen acht Alteingesessene die Initiative „Zukunft Bockenheim“. Der ausschlaggebende Grund: Die schon lange viel zu beengt in Bockenheim beheimatete Goethe Universität plant den Umzug ins Frankfurter Westend. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG kauft vom Land Hessen den alten Campus. Ein 14 Hektar großes Gelände mitten im Stadtteil gilt es umzunutzen und teilweise zu verkaufen. „Da war uns klar, wir wollen uns einmischen, weil sonst nur meistbietend verkauft wird“, beschreibt Mönich die damaligen Befürchtungen. Die Initiative startet mit ihren gut besuchten Stadtteil-Spaziergängen, um über die Veränderungen zu informieren.
2008 mietet der Verein von der Stadt die Räume eines ehemaligen Ladenlokals in der Leipziger Straße an und bespielt sie bis heute. Das Stadtteilbüro ist offen für alle, die sich über die vielen bis heute anstehenden Neubaupläne im Stadtteil informieren möchten. Es bietet aber auch Gruppen und Geflüchteten Räume für Veranstaltungen und Weiterbildung. Und es ist eine Anlaufstelle für Bewohner mit Sorgen und Nöten.
Und da sind es manchmal auch ganz andere Themen, bei denen die Initiative versucht, den Menschen weiterzuhelfen. Als zwei Toilettenhäuschen geschlossen werden, kommen die angrenzenden Kioskbetreiber und finden Unterstützung. Oder: Gerade ältere Menschen, die in früher „gebundenen“ Sozialwohnungen leben, haben in den letzten sechs Jahren massive Mieterhöhungen durch neue „City“-Zuschläge im Mietspiegel bekommen. Das Stadtteilbüro ist der Ort, wo jeder seine Mieterhöhung prüfen lassen kann und wo Einsprüche formuliert werden. Und die Mieter können sich hier treffen und ihr Vorgehen beraten.
Vor allem aber träumen die Projektmacher davon, das ehemalige, schon seit Jahren leerstehende und vom Abriss bedrohte „Philosophicum“, ein neungeschossiger Nachkriegsbau des Architekten Ferdinand Kramer, für ein alternatives Wohnprojekt erwerben und nutzen zu können – eine Art Riesen-Wohngemeinschaft mit günstigen Mieten für 150 Menschen und offenen Räumen für die ganze Nachbarschaft. Das am Gemeinwohl orientierte Vorhaben spricht sich schnell im ganzen Viertel herum. 130 Leute machen in kurzer Zeit begeistert mit. Detaillierte Umbau-Pläne werden zusammen mit einem Frankfurter Architektur-Büro ausgearbeitet und ein Finanzierungsplan auf die Beine gestellt. Das Projekt ist Teil des bundesweiten Mietshäuser Syndikats. Man bewirbt sich voller Zuversicht bei der Stadt. Am Ende vergeblich.
„Es gab sogar schon einen fertigen Vertrag“, erzählt Mönich, „aber der sah vor, dass wir eine Bürgschaft von der Bank vorlegen müssen über den kompletten Kaufpreis von 8 Millionen. Wir wollten dafür ein halbes Jahr Zeit.“ Die Initiative hat das Nachsehen. Die Stadt verkauft 2014 doch an einen privaten Investor. Die Enttäuschung ist groß.
Doch die Initiative gibt nicht auf und betreibt weiterhin engagiert ihr Stadtteilbüro. 600 Euro Miete plus Unkosten fallen jeden Monat für die 60 Quadratmeter an. Über Spenden, Preisgelder und Vermietung wird das Geld jeden Monat erwirtschaftet. Für Rücklagen reicht es meist nicht. Ist der Drucker – wie gerade – kaputt, ist das ein Problem.
Die Räume kann grundsätzlich jeder nutzen. Sprachkurse für Migranten und Flüchtlinge finden täglich hier statt. Ein Literaturkurs nutzt die Räume, am Wochenende gibt es regelmäßig Seminare zu Foto und Film. Auch die Dritte Welt Haus Initiative zeigt hier Filme. Gerade wird eine Ausstellung „Mein erstes Jahr in Frankfurt“ mit Fotos von geflüchteten Kindern vorbereitet.
Der Verein selbst bietet nachmittags kostenlose Informationen an für alle, die Fragen rund ums Thema Miete, Mieterhöhung und Mietspiegel haben. Ganz konkret haben die Projektmacher Standardschreiben bei bestimmten Rechtsverstößen bei Mieterhöhungen entwickelt, die die Mieter nutzen können. Seit Juli 2017 finanziert die Stadt Frankfurt eine halbe Stelle im Stadtteilbüro, das bisher komplett ehrenamtlich betrieben wurde. Das ermöglicht es nun, täglich von 15 Uhr bis 19 Uhr die Räume für alle zu öffnen. Und das große Ziel ist es immer noch, ein niedrigschwelliges Wohnprojekt auf dem Campus Bockenheim auf die Beine zu stellen, in dem jeder Platz finden kann. Und mit „jeder“ sind diejenigen gemeint, die „die halbe Stadt sind“, wie Anette Mönich betont, „denn die Hälfte aller Frankfurter Haushalte haben Anspruch auf eine Sozialwohnung.“ Hierzu gehören auch Geflüchtete, Roma-Familien und Menschen aus dem Durchschnitt der Bockenheimer Stadtteilbevölkerung. Menschen, die mit den glänzenden Hochhausfassaden nichts zu tun haben.
Auch wenn manchen Mitstreitern mit dem Scheitern der Philosophicum-Pläne ein wenig die Puste ausgegangen ist, so ist „Zukunft Bockenheim“ im Viertel weiter präsent und aktiv. Gerade wieder beim Protest gegen die aktuellen Pläne rund um das Tibethaus. Auch hier wird bereits an einem alternativen Bebauungskonzept gearbeitet. Es sind Menschen wie Anette Mönich und ihre Kollegen, die dafür sorgen, dass privater Investorenpoker um lukrative Grundstücke nicht mehr hinter verschlossenen Türen gespielt wird. Sie bieten mit dem Stadtteilbüro Räume an, in denen die Beteiligung aller an der Entwicklung des Stadtteils organisiert werden kann. Und das darf man als großen Erfolg einer Initiative feiern.
Projekt
Stadtteilbüro Bockenheim / Initiative „Zukunft Bockenheim e.V.“
Niedrigschwellige Anlaufstelle für die Bürger des Stadtteils; vor allem zu Fragen der Mietenentwicklung im Quartier. Unabhängig von Parteien und Religionen. Beratung bei Kündigungen/Mieterhöhungen oder im Aufbau von eigenen Wohnprojekten.
Gebäudetyp
Altbau (1905), Erdgeschoss, ehemaliges Ladenlokal, zwei Räume, großes Schaufenster
Gesamtfläche oder Nutzflächen nach Nutzung
60 qm
Projektstatus
Etabliert
Das Besondere – Erfolgsbausteine
Trotz des Scheiterns des größten Vorhabens der Initiative 2014 – ein alternatives, gemeinwohlorientiertes Wohnprojekt auf dem ehemaligen Uni-Campus-Gelände – machen die Projektmacher bis heute u.a. mit einem offenen Stadtteilbüro engagiert weiter. Statt sich enttäuscht zurück zu ziehen, mischen sie sich weiter laut und vernehmbar in die städtebauliche Entwicklung des Quartiers ein.
Vernetzung und Kompetenz durch hohe Ansprechbarkeit. Das Büro ist werktags zwischen 15 und 19 Uhr geöffnet. Jeder kann kommen. Daraus entsteht eine Plattform zur Entwicklung von Gruppen zu unterschiedlichen Themen. Regelmäßig finden hier Ausstellungen und Kinoabende statt. Auch im Rahmen der Flüchtlingshilfe werden die Räume intensiv genutzt.
Räume stehen allen Initiativen und Gruppen aus dem Stadtteil für Veranstaltungen, Workshops, Projektplanung u.ä. gegen eine kleine Gebühr zur Nutzung offen.
Schwerpunkt der Arbeit ist das Engagement für langfristig günstigen Wohnraum und alternative Wohnformen in Bockenheim.
Chronologie
Am Anfang
Zwischen 2005 und 2007 starten Mitglieder einer Bockenheimer Hausgemeinschaft mit knapp zehn Leuten eine Bürgerinitiative zum Thema Leerstand im Quartier (ein großes Kaufhaus auf der Leipziger Straße, der lebhaften Einkaufsstraße des Viertels, stand über 5 Jahre leer) und engagieren sich bei der Bürgerbeteiligung zur Umnutzung und Entwicklung des 14 Hektar großen Campus-Geländes. Nach 100 Jahren in beengten Verhältnissen in Bockenheim soll die Uni ins Frankfurter Westend umziehen.
Aufbau
Die Gruppe tritt regelmäßig mit Infoständen auf, veranstaltet Stadtteilspaziergänge und findet sehr große Beachtung. Das Interesse an Informationen ist sehr hoch. Die Gruppe fordert ein Stadtteilbüro zur Information der Bürger zu dieser einschneidenden Veränderung und mietet schließlich mit eigenen Mitteln ein Büro auf der Leipziger Straße an und betreibt es mit ehrenamtlichem Engagement. Die Initiative schließt sich zum Verein „Zukunft Bockenheim e.V.“ zusammen.
Verstetigung
Ab 2008/2009 entwickelt der Verein Pläne und ein Konzept für ein großes, alternatives Wohnprojekt mit günstigen Mieten und offenen Räumen im leerstehenden, vom Abriss bedrohten „Philosophicum“-Gebäude auf dem Uni-Campus; ein neungeschossiger Nachkriegsbau des Architekten Ferdinand Kramer. 130 Leute machen begeistert mit. Detaillierte Umbaupläne entstehen zusammen mit einem Frankfurter Architekten. Ein Finanzierungsplan über acht Millionen wird auf die Beine gestellt. Nach jahrelangen Verhandlungen mit der Stadt scheitert das Vorhaben aber an einer Finanzierungszusage der Banken. Die Stadt verkauft 2014 an einen privaten Investor.
Auf lange Sicht
Doch die Initiative gibt nicht auf. Derzeit beteiligt sie sich vor allem am Protest gegen geplante Neubauprojekte mit Luxuswohnungen und macht sich weiter für mehr geförderten Wohnraum stark. Außerdem bietet sie mit ihrem Stadtteilbüro auch anderen Gruppen offene Räume und will weiterhin Anlaufstelle für weniger betuchte Menschen und ihre Sorgen im Quartier bleiben.
Finanzierung
Das Büro und die Arbeit der Gruppe wird von 2009 bis 2017 ausschließlich von Spenden und Nutzergebühren finanziert. Seit Juli 2017 finanziert die Stadt Frankfurt eine halbe Stelle im Stadteilbüro. Die festen monatlichen Kosten betragen 600 Euro für die Miete plus Nebenkosten.
Organisationsform
Formelle Struktur: Verein, eingetragen (Initiative Zukunft Bockenheim e.V.), derzeit 12 Mitglieder
Verein ist Mieter einer städtischen Liegenschaft
Arbeitsstruktur: Gruppen die sich zu wichtigen Themen bilden und die oft temporär sind, fanden und finden hier Räume für ihre Aktivitäten. z.B. Mieterinitiativen zum Mietspiegelkonflikt, Wohnprojekte wie z.B. „Philosophicum“ (eine Initiative des Büros) Netzwerk gemeinschaftliches Wohnen auf dem Campus, Kino-Initiative, Sprachkurse, internationale Frauengruppen
Kommunikation
Website www.zukunft-bockenheim.de, Infostände, aktive Beteiligung bei Bürgerbeteiligungen, Flyer, Mailings, Plakate, großes Schaufenster des Stadtteilladens informiert über alle Aktivitäten
Teamentwicklung
Das Büroteam bestand bis Mitte 2017 nur aus Freiwilligen. Jetzt konnte eine Bürokraft eingestellt werden, dank einer von der Stadt finanzierten Halbtagsstelle. Aktiv im Verein tätig sind derzeit fünf Personen.
Der Verlauf der Teamentwicklung war zeitweise kompliziert. Durch das Scheitern der Philosophicum-Pläne haben sich viele frustriert zurückgezogen.
Immobilien/Planen/Bauen
Das Projekt „Stadtteilbüro“ versteht sich als Zugang zur Initiierung von Initiativen, die sich um alternative Wohnprojekte und geförderten Wohnraum bemühen, etwa bei Wohnungsbaugesellschaften oder Wohngenossenschaften.
Nachbarschaft und Stadtteil
Gut vernetzt mit Bewohnern, sozialen Trägern und Bezirkspolitikern
Wen oder welche Unterstützung brauchen wir noch?
Mittelfristig benötigen wir wieder mehr professionelle, engagierte Mitstreiter.
Stolpersteine
…sind manchmal einfach auch die vielen Anforderungen, die entstehen, weil wir als kleines Projekt mit wenig Leuten trotzdem den Anspruch haben, uns mit den Menschen, die zu uns kommen und vor allem mit ihren Themen und auch Sorgen, fachkundig zu beschäftigen.
Sonstiges
Es bleibt spannend. Widerstand und Protest gegen immer mehr Neubauprojekte mit Luxus-Eigentumswohnungen in Bockenheim und immer weniger geförderter Wohnraum oder Sozialwohnungen auch für ärmere Menschen sind nötiger denn je, um den bunten Stadtteil mit seiner heterogenen Bewohnerschaft langfristig zu erhalten.