Hiergeblieben! Das „Kompott“ in Chemnitz.
Äpfel, Birnen, Pflaumen… Kompott ist eine Nachspeise, die aus unterschiedlichen Früchten und oft aus Fallobst besteht. So sieht sich das Projekt Kompott als bunte Mischung von unten und als Experiment des Zusammenlebens und Organisierens. Ehemalige Hausbesetzer sind nun Besitzer eines ganzen Häuserblocks in Chemnitz.
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Nur einen Kilometer von der Chemnitzer Innenstadt entfernt, gleich neben dem Schlossteich, befindet sich der Konkordia-Park. Wo früher Wohnhäuser standen, ist jetzt ein Skatepark, ein Basketball-Platz und viel Grün. Nach Westen wird die Fläche von der Leipziger Straße begrenzt, auf der sich der brausende Verkehr in Richtung Autobahn wälzt. Mit der schmutzgrauen Fassade eines Wohnblocks aus den 50er Jahren beginnt das dahinterliegende Wohngebiet. Graffiti verziert den bröckelnden Putz. Die Schaufenster von Laden und Lesecafé laden zum Näherkommen ein. Auf dem Dach weht die schwarz-rote Fahne des Antifaschismus, Rollläden und Lochbleche schützen die Fenster im Erdgeschoss.
Wer durch die Toreinfahrt den Hinterhof betritt, findet dort eine grüne Oase. Liegestühle laden zum Verweilen ein. Auf das Dach des Fahrradschuppens führt eine Treppe, deren Stufen aus alten Wohnungstüren gezimmert sind. Der Weg zum „Umsonstladen“ führt durch das Treppenhaus, in dem Plakate über mehreren Schichten Farbe kleben. Im ersten Stock packt eine etwa 60-jährige Nachbarin Kleidung aus. Auf engem Raum hängen säuberlich sortiert Pelzmäntel und Regenjacken, Hosen und Hemden. Alles zum Mitnehmen, alles ohne Geld.
Aus dem Lesecafé darunter dringt Musik. Seit Stunden sitzen dort vier Leute in einer Jam-Session mit einer Mischung aus Jazz und Freestyle-Rap. Sie spielen ohne Publikum, nur für sich. Dass hier das Lesecafé ist, lässt sich auf den ersten Blick erkennen: Die Wände sind mit Bücherregalen bedeckt, dazwischen gemütliche Sessel und Sofas, die jüngsten wohl aus den 80er Jahren. Ein Teil der Decke über den Musikern ist mit Leineneinbänden ausgemusterter Romane tapeziert, ein anderer mit Buchseiten aus Karl Marx’ Kapital. Der Vorhang im Fenster zur Straße besteht aus unzähligen transparenten Schallplatten. In der Küche nebenan backen ein paar Leute mit Kindern Plätzchen, von denen die kleine Gruppe, die auf den Sofas des Lesecafés Wichtiges zu besprechen scheint, gelegentlich nascht.
Was in diesen Gebäuden zusammenfindet, macht dem Namen „Kompott“ alle Ehre: Das Lesecafé Odradek mit regelmäßigen Filmabenden und Lesungen, Keramikatelier und Holzwerkstatt, ein gemeinschaftliches Wohnprojekt, der Stadtteilgarten „Kompost“, ein Kunstladen, der große Veranstaltungs- und Konzertraum „Zukunft“, Tonstudio, die Einkaufsgemeinschaft „Fresszelle“ und viele andere größere und kleinere Projekte – all das findet sich über mehrere Ladenflächen und die vielen kleinen Wohnungen der Häuser verteilt.
Die Vorgeschichte: Von Kämpfen und Konzepten
Das unfertige, spielerische Leben im Kompott macht es zu einem Fremdkörper in einer Stadt, die sonst sehr aufgeräumt, geradezu leer erscheint. Chemnitz wirbt mit dem Slogan „Stadt der Moderne“ und verweist damit auf die industrielle Moderne, während der die Einwohnerzahl stark wuchs. Doch in der Nachwendezeit verlor die Stadt über 20 Prozent ihrer Einwohner und inzwischen ist der Anteil der über 60-Jährigen so hoch wie in kaum einer anderen deutschen Stadt. Etwa jede zehnte Wohnung in Chemnitz steht leer und das, obwohl während der vergangenen 20 Jahre zahlreiche Wohnhäuser abgerissen wurden.
Die Geschichte des „Kompott“ ist auch die Geschichte des Ringens um selbstbestimmte Freiräume. „Über kurz oder lang gehen hier sowieso alle weg“, war lange Zeit ein häufig zu hörender Seufzer alternativer Jugendlicher. Grund dafür war weniger das Fehlen von Arbeitsplätzen als der Mangel an jugendkulturellen Orten.
Die Geschichte des „Kompott“ beginnt im Sommer 2007 mit einer Hausbesetzung. Die Besetzerinnen und Besetzer bekommen einen Nutzungsvertrag für ein Ausweichgebäude und das Wohn- und Kulturprojekt „Reba 84“ (Reitbahnstraße 84) entsteht. Umsonstladen und Fahrradwerkstatt werden eingerichtet und kulturelle und politische Veranstaltungen finden statt. Die Reba 84 wird zu einem Treffpunkt für junge Leute, der Andrang ist riesig. Schnell entwickeln sich die Ideen über das Haus hinaus: Warum nur auf ein Haus beschränken, wenn ringsum so viel leer steht? So entwickelt die Gruppe die Idee eines „experimentellen Karrees“ und stößt damit auf breites Interesse. Das Studentenwerk und ein Künstlerbund werden als Partner gewonnen und ein umfassendes Konzept entsteht, das den Stadtrat überzeugt. Nun werden Fördermittelanträge bei Bund und Europäischer Union gestellt. Doch die städtische Wohnungsgesellschaft weigert sich, einen dauerhaften Nutzungsvertrag für den Häuserblock einzugehen und kündigt schließlich auch den Vertrag über die Reba 84. Die Fördermittelanträge scheitern an der Frage der Standortsicherheit.
Doch die Gruppe gibt nicht auf. Dabei kommt ihnen zugute, dass sie sich souverän verschiedener Taktiken bedienen. Einerseits schreiben Aktive der Gruppe profunde Konzepte und betreiben eine professionelle Medienarbeit – andererseits scheuen sie auch im offiziellen Kontext vor grundlegender Kritik nicht zurück. Im Foyer des Rathauses wird eine Kloschüssel mit dem Hinweis „Für Stadtratsbeschlüsse“ aufgestellt – ein Hinweis auf die nie erfolgte Umsetzung des Stadtratsbeschlusses, der sich für das „Experimentelle Karree“ aussprach. Die Website http://www.chemnitz-zieht-weg.de/ macht parodistisch auf Chemnitzer Missstände aufmerksam. Diese Mischung aus ironischer Reflexion und kompetenter inhaltlicher Arbeit führt zu einer breiten öffentlichen Wahrnehmung. Zunehmend hat die Gruppe Verbündete in Politik und Verwaltung und kann insbesondere die Oberbürgermeisterin von ihren Ideen überzeugen.
Die Vielfalt: Von Strebern und Phrasendreschern
2010 schließlich gibt es mit den vier Häusern in der Leipziger Straße ein Ersatzobjekt. Es ist ein schwacher Trost gegenüber dem schon sicher geglaubten „Experimentellen Karree“ und doch ein großer Schritt nach vorn. Drei Jahre lang kann die Gruppe die Häuser kostenfrei nutzen, anschließend soll über einen Kauf verhandelt werden. Diese Übergangslösung erweist sich als Glücksgriff. Ohne ökonomischen Druck können die Gebäude schrittweise in Betrieb genommen und Gruppenprozesse bearbeitet werden.
Einige Aktive ziehen sich zurück und neue kommen hinzu. Ein hoher basisdemokratischer Anspruch macht langwierige Diskussionen erforderlich und fast alle Aufgaben werden ehrenamtlich erledigt. Anfangs werden alle Fragen auf dem gemeinsamen wöchentlichen Plenum verhandelt: „Wir brauchen Feuerlöscher!“, „Schreiben wir eine Pressemitteilung?“, „Wer darf als nächstes bei uns einziehen?“ Die Vielzahl an Fragen führt mit der Zeit zu einer Ausdifferenzierung der Entscheidungsstrukturen. Teilgruppen, die das Lesecafé, den Umsonstladen, den Veranstaltungsraum „Zukunft“ oder die wöchentliche „Volxküche“ betreiben, haben ihre eigenen kleinen Entscheidungsgremien. Übergeordnete Fragen werden weiterhin alle zwei Woche im gemeinsamen Plenum besprochen. Das zehrt an den Kräften, ermöglicht aber auch den Austausch zwischen einer großen Zahl von Beteiligten. Entscheidungen werden auf Konsensbasis getroffen — und doch müssen nicht alle Beteiligten überzeugt sein, damit ein Vorhaben umgesetzt werden kann. Denn das Kompott versteht sich als Ort, „Sachen auszuprobieren“, und Raum für Experimente gibt es genug. Auf dieser Basis kann die ungeheure kreative Energie zahlloser Aktiver in die unterschiedlichsten Vorhaben gelenkt werden.
Der Verhandlungskurs mit Verwaltung und Fördergebern bleibt nicht ohne Kritik: „Das Punkimage vom linksautonomen Phrasendrescher war gestern, nun will man sich als kommunalpolitischen Streber gebärden, der schon mal mit der Verwaltung kuscheln kann“.
Von Linksalternativen und Großmüttern
Auf die Frage, für wen das „Kompott“ da sei, antworten die Aktiven selbstbewusst: „Für alle!“ Und schränken ein: „Nazis müssen draußen bleiben. Das ist einer der wenigen Orte in Chemnitz, wo das klar ist.“ Derlei Aktivitäten bestärken die örtlichen Neonazis, denen das Kompott ein Dorn im Auge ist. Mehrfach haben sie das Kompott angegriffen. Die Aktiven im „Kompott“ lassen sich von derlei Angriffen nicht einschüchtern – im Gegenteil. Für sie ist das „Kompott“ ein Ansatz, dieser Atmosphäre der Einschüchterung und Entmutigung in der Stadt einen Raum der Möglichkeiten entgegenzusetzen.
Insgesamt sind es überwiegend junge Menschen, die die extrem günstigen Mieten und die zahllosen Möglichkeiten zum Selbermachen im „Kompott“ nutzen. Hier wachsen sie in die Verantwortung hinein, eine ganze Häuserzeile zu verwalten, Veranstaltungen zu organisieren, Sanierungsmaßnahmen durchzuführen und Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.
Einige Angebote gehen aber weit über die Szene hinaus: Seit auch in Chemnitz viele Flüchtlinge angekommen sind, ist der Umsonstladen ein wichtiger Ort des Austauschs geworden. Zwei Mal in der Woche hat der Laden in einer Wohnung im ersten Stock geöffnet. Dann können hier Kleidung, Spielzeug und Haushaltswaren abgegeben und abgeholt werden. Auf einen Nachweis für Bedürftigkeit wird bewusst verzichtet. Wer etwas gebrauchen kann, nimmt es einfach mit — unabhängig vom Einkommen. Der Umsonstladen ist auch der Ort, wo ältere Leute aus dem Stadtviertel mitwirken.
Zur selben Zeit hat das Lesecafé im Erdgeschosse geöffnet. Hier ist Raum zum Teetrinken und Spielen mit den Kindern, für die im engen Umsonstladen zu wenig Platz wäre. Das Lesecafé ist, ebenso wie der Hinterhof, aus einem weiteren Grund ein wichtiger Ort für Flüchtlinge, denn hier haben sie freien Zugang zum Internet. Die Großküche im „Kompott“ wird insbesondere im Fastenmonat Ramadan zum gemeinschaftlichen Kochen nach Einbruch der Dunkelheit genutzt. Dann bricht allabendlich ein buntes Treiben in der Leipziger Straße aus.
Der Stadtteilgarten „Kompost“ auf einem Nachbargrundstück ist eine weitere Möglichkeit, sich einzubringen. Wer Zeit und Lust hat, kann hier gärtnern, faulenzen und in Kontakt kommen. Ein Techniker aus der Nachbarschaft hat eine Solarzelle installiert, eine Großmutter aus der Nachbarschaft kommt ungefragt zum Unkraut jäten vorbei.
Auf der Homepage des Projektes wird der hohe Selbstanspruch der Gruppe deutlich: „Das Kompott ist ein Experiment des Zusammenlebens und Organisierens, das Menschen zu seiner Gestaltung aufruft. Wir wollen gemeinsam mit Selbstorganisation experimentieren, Räume selbstbestimmt gestalten und uns in den Stadtentwicklungs-Diskurs in Chemnitz einmischen.“ Zum Mitmachen eingeladen ist dabei fast jeder.
Die Lektionen: Von Vertrauen und Verträgen
Ein Resumée, das sich nach den ersten 5 Jahren ziehen lässt: Vieles wäre einfacher gewesen, wären die Besetzerinnen und Besetzer von Anfang an ernst genommen worden. Hätten Verwaltung und Politik der Gruppe zu Beginn nur einen Bruchteil der Fähigkeiten zugetraut, die sie später unter Beweis stellten, hätten beide Seiten viel Energie und Nerven sparen können.
Bewährt hat sich, der Gruppe im Rahmen einer Nutzungsvereinbarung einen unkomplizierten Einstieg zu ermöglichen. Ebenso wichtig war die Einigung, nach Ablauf dieser Frist über einen Kauf zu verhandeln. Die Kombination aus schnellem und unkompliziertem Projektbeginn und langfristiger Perspektive setzte die Energie der Gruppe für die Umsetzung ihrer zahllosen Ideen und die dringend nötige Sanierung des Gebäudes frei. Die Gruppe fand in dieser Zeit das Selbstvertrauen, die vier Häuser zu verwalten und Stadtverwaltung und -politik konnten Vertrauen in die Kompetenz und Zuverlässigkeit der Gruppe gewinnen.
Und dennoch: Einfach ist das Verhältnis nach wie vor nicht. So wie die Aktiven über die Jahre ein genaues Verständnis der Arbeitsweise von Stadtpolitik und -verwaltung erlernt haben, so musste auch die andere Seite ein Verständnis für die Arbeitsweise selbstverwalteter Gruppen entwickeln. Das gegenseitige Unverständnis hat auch dazu geführt, dass die ursprünglich für drei Jahre angesetzte „Überlassung“ sich während der Verhandlungen noch um zwei Jahre verlängerte.
Denn auch für die Gruppe waren große interne Hürden zu überwinden. Viele zögerten, die große Verantwortung zu übernehmen, die mit dem Eigentum einhergeht. „Müssen wir überhaupt kaufen? Können wir nicht einfach alles so weiterlaufen lassen?“ „Müssen wir dann die Selbstverwaltung aufgeben, wenn jemand die Geschäftsführung übernimmt?“. Wie wurde der Kauf finanziert?
Doch zu viel sprach für einen Kauf. In der Überlassungsphase steuerten die damalige Eigentümerin, die Grundstücks- und Gebäudewirtschafts-Gesellschaft mbH Chemnitz (GGG) sowie die Stadt nahezu 200.000 Euro für Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen bei. Hinzu kamen 120.000 Euro Bundesmittel aus dem Förderprogramm „Jugend belebt Leerstand“. Die Bereitschaft, einen Großteil der notwendigen Sanierungsmaßnahmen selbst durchzuführen, reduzierte die verbliebene Kaufsumme auf 70.000 Euro. Dieser Betrag soll über die Mieten der Wohn- und Projektflächen refinanziert werden. Anfang 2016 schließlich gingen die Häuser in den Besitz einer zu diesem Zweck gegründeten GmbH über. Seit Sommer 2017 gehört das Projekt zum Verbund des Mietshäuser Syndikat.
Der Einstieg in die Selbstverwaltung des „Kompott“ war für viele auch die Entscheidung, in Chemnitz zu bleiben. Während man sich vor wenigen Jahren noch fragte: „Kriegen wir das Haus auch wieder los, wenn dann alle wegziehen?“, steht nun für die meisten fest: „Ich bleib erstmal hier!“ Das Haus ist eine Baustelle und wird es noch lange sein. Doch was andere abschrecken mag, ist für die Aktiven im „Kompott“ Herausforderung und Chance. Das Potential ist riesig. Raum gibt es genug.
Projekt
Von Hausbesetzern zu Hausbesitzern und das gleich für einen ganzen Wohnblock in Chemnitz. Hier wird nicht nur gewohnt, sondern das Miteinander und die politischen Projekte stehen im Vordergrund.
Gebäudetyp/Nutzflächen
- vier zusammenhängende Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 3.200 m², in denen eine Mischung aus Wohnungen, Ateliers, Gemeinschafts- und öffentlichen Räumen zu finden ist.
- in einem Wohnblock der 50er Jahre im Stil eines schlichten sozialistischen Klassizismus
- Ladenflächen im Erdgeschoss, Kleinstwohnungen in den oberen Etagen
- Grundstück: 3.200 m², Gewerbefläche: 1.328 m², Wohnfläche: 1.198 m²
- langfristig ca. 2/3 Wohnen, 1/3 Projektflächen
- Wohnraum: 2 Häuser mit ca. 20 Wohnungen mit 50 bis 70 m² (Einzelpersonen oder WG)
- Atelier: 1 Haus mit ca. 8 Ateliers, z.B. Holz- & Keramikwerkstatt, Tonstudio, usw.
- Öffentliche Flächen:
o Umsonstladen bzw. Kompass: Unterstützung von benachteiligten Menschen, u.a. Geflüchtete, HartzIV-Empfänger_innen, etc.
o Lesecafé Odradek: Veranstaltungen für leise Kunst und Kultur
o Partzipationsfläche Zukunft: Veranstaltungen für laute Kunst und Kultur
o Garten Kompost: ca. 800 m² Nutzfläche und gemeinschaftlicher Bewirtschaftung
- Gemeinschaftliche Flächen: Sauna, Innenhof, Gemeinschaftswohnung, Büro, etc.
- Plenarraum: Organisationsraum für politische Gruppen
- Gästewohnung: Kostengünstige Übernachtungsmöglichkeit für Einzelne und Gruppen
- Fresszelle: Abholung von Ernteanteilen einer Solidarischen Landwirtschaft
- Von den erwähnten vier Häusern sind derzeit drei genutzt. Das letzte Haus ist erst an das Wasser- und Stromnetz angeschlossen worden, so dass eine Nutzung in absehbarer Zeit möglich wird.
Projektstatus
Pionierphase
Das Besondere – Erfolgsbausteine
Im Vorlauf der Entstehung war es immer wieder die Kombination verschiedener Strategien, die Erfolge brachte: eine Hausbesetzung und die klare Forderung nach selbstverwalteten Räumen auf der einen Seite, Verhandlungsbereitschaft und intensive Konzeptarbeit auf der anderen Seite.
Vom Besetzer zum Eigentümer: Für die Konsolidierung des Kompott war ein sehr niedrigschwelliger Zugang zu den Gebäuden ausschlaggebend. Der Zeitraum von zunächst 3 Jahren mietfreier Überlassung der Häuser, der während der Verhandlungsphase mehrmals verlängert wurde, erlaubte es der Gruppe, in ihre neue Rolle hineinzuwachsen. Wichtig war, dass es von vornherein eine Perspektive auf Verstetigung mit der Option für einen Kauf-/Erbbaurechtsvertrag gab.
Es ist gelungen, über das Programm „Jugend belebt Leerstand“ des Experimentellen Wohnungs- und Städtebaus des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau- und Reaktorsicherheit einen Zuschuss zu erhalten.
Das Besondere am Kompott ist sein hoher Anspruch an Selbstverwaltung bei gleichzeitig großer Offenheit für die Beteiligung Außenstehender. Das Kompott als „Experiment des Zusammenlebens und Organisierens“ bietet ein für alle Interessierten offenes zweiwöchentliches Organisationsplenum, auf dem Entscheidungen getroffen werden. Fast alle Arbeit wird ehrenamtlich erledigt und bringt damit permanente Rotation mit sich.
Chronologie
Am Anfang
Im Frühjahr 2007 beauftragt das Stadtplanungsamt Chemnitz zur Belebung des Reiterbahnviertel das „Reiterbahnviertel Entwicklungsteam“.
Mitte 2007 wird das leerstehende Objekt in der Karl-Immermann-Straße 23/25 im Reiterbahnviertel, das sich im Besitz der städtischen Wohnungsgesellschaft GGGmbH befindet, durch die Initiative „Eberhard Weber“ besetzt. Der Widerspruch zwischen massenhaft leerstehenden Häusern in Chemnitz und dem Wunsch junger Leute nach experimentellen und jugendkulturellen Orten war Anlass zur Besetzung des Gebäudes. Kurze Zeit später erhalten die Besetzer durch einen Nutzungsvertrag ein Ausweichgebäude in der Reiterstraße 84. Die Verpflichtung: Selbstausbau durch die Träger. Dort entsteht das Wohn- und Kulturprojekt Reiterbahnstraße 84, „Reba 84“, mit einem Umsonstladen, einer Fahrradwerkstatt und Raum für politische und kulturelle Veranstaltungen.
Aufbau
2008 wird auf der Grundlage des „Entwicklungskonzeptes Reiterbahnviertel“ ein „Integriertes Handlungskonzept Reiterbahnviertel“ erarbeitet, das zur Aquise von Mitteln aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) dienen soll. Kurz darauf weigert sich jedoch die städtische Wohnungsgesellschaft, einen langfristigen Nutzungsvertrag zu schließen. Durch den großen Andrang wird die Idee im Herbst 2008 dennoch weiterentwickelt. Ein „experimentelles Karree“ soll entstehen. Dazu wird ein ausführliches Konzept entwickelt, das den Stadtrat überzeugt.
2009 wird die Idee weiterentwickelt, Finanzierungsmöglichkeiten werden durchgespielt und ein Objekt gesucht, das das „experimentelle Karree“ beherbergen kann.
Anfang 2010 kündigt die GGGmbH den Überlassungsvertrag für die Reiterstraße 84 und Bernsbachplatz 6. Auch der EFRE-Antrag scheitert durch die ungewisse Standortfrage.
Ende 2010: Intensive Verhandlungen brachten das Ersatzobjekt (vier Häuser in einem Wohnblock) an der Leipziger Straße/Matthesstraße. Das „Kompott“ entsteht mit Flächen zum Wohnen und für Projekte. Die zunächst 3-jährige mietfreie Überlassungsfrist wird für Kaufverhandlungen verlängert.
Auf lange Sicht
Seit dem 27.07.2017 durch das Mietshäuser Syndikat entprivatisiert, um das Objekt langfristig der Boden- und Hausspekulation zu entziehen und um einen starken Verbund im Hintergrund zu haben.
Finanzierung
Während der Überlassungsphase finanzierte die Eigentümerin GGG Anschlüsse, Reparaturen und Betriebskosten in Höhe von 64.615 Euro. Hinzu kam eine Förderung der Stadt Chemnitz für Instandsetzungsmaßnahmen in Höhe von 120.000 Euro.
Weitergehende Baumaßnahmen wurden durch die Miete der Nutzer und einen Zuschuss des Programms „Jugend belebt Leerstand“ in Höhe von 120.000 Euro finanziert. Ein Großteil der Sanierungsmaßnahmen erfolgt in Eigenleistung. Der Ausbau des Veranstaltungsraums „Zukunft“ wurde durch Spenden in Höhe von 10.000 Euro sowie viel Eigenleistung ermöglicht. Langfristig sollen die Mieten des Wohnprojekts und der Projektflächen den Kaufpreis von 70.000 Euro refinanzieren.
Organisationsform
Zunächst während der Zeit des Überlassungsvertrages:
Bis zum Kauf war der gemeinnützige Verein Urbane Polemik e.V. Generalmieter und betrieb die öffentlichen Flächen. Als einfach zu handhabende Rechtsform war der Verein hierfür geeignet.
Jetzt nach Kauf:
Für den Kauf wurde die GmbH „Alternatives Wohn- und Kulturprojekt Kompott“ gegründet. Sie ist nun Eigentümerin der Gebäude.
Gesellschafter der GmbH ist der nicht gemeinnützige Verein „Bunte Grütze e.V.“, der der Organisation der Interessen aller Bewohner und Nutzer der Häuser dient. Die GmbH als wirtschaftende Rechtsform führt aus, was im Verein beschlossen wird. So wird das Demokratieprinzip des Vereins mit der wirtschaftlichen Tätigkeit der GmbH verknüpft.
Die Flächen für Veranstaltungsräume sind an eigenständige Vereine (z.B. Urbane Polemik e.V.) untervermietet, die sich jeweils selbst verwalten. Sinn dieser Konstruktion ist es, gleichzeitig eine hohe Eigenständigkeit der einzelnen Projekte und eine große Stabilität des Gesamtprojekts zu gewährleisten.
Die angestrebte Mitgliedschaft im Mietshäuser Syndikat soll das Haus auch langfristig vor Reprivatisierung schützen.
Kommunikation/Teamentwicklung
Derzeit bewohnen ca. 25 Menschen die Häuser. Die öffentlichen Flächen werden zusätzlich von vielen, anderen Menschen bespielt.
Zweiwöchentlich gibt es ein „Orga-Plenum“ für alle Aktiven im Projekt (sowohl Bewohner als auch Nicht-Bewohner). Hier werden alle grundlegenden Entscheidungen getroffen, die die Häuser und ihre Nutzung betreffen. Zweiwöchentlich gibt es außerdem ein „Wohngruppen-Plenum“, in dem die Bewohner ihre Themen verhandeln.
Alle anderen Projekte im Haus haben eigenständige Organisationsstrukturen und damit eigene Treffen: der Veranstaltungsraum „Zukunft“, die darin stattfindende „Volxküche“, der Umsonstladen und die anderen Projekte im Kompott. Das klappt ganz gut, aber nicht immer reibungslos: Die Organisationsprozesse im Projekt sind Teil des angestrebten Experiments.
Fast alle Tätigkeiten werden ehrenamtlich erledigt. Das bringt die Notwendigkeit mit sich, immer wieder Neue in die Aktivitäten einzubinden. Einerseits entstehen damit immer wieder neue, unerwartete Projekte, andererseits sind manche von sich wiederholenden Debatten frustriert.
Immobilien/Planen/Bauen
Während der Überlassungsphase wurden die Gebäude in der Leipzigerstr. 3/5 und der Matthesstr. 21 und 13 mit angeschlossenen Medien von der Eigentümerin zur Verfügung gestellt. (Finanzierung s. dort)
In jeder Wohnung war bei Einzug eine Minimalausstattung (Wasser, Stromanschluss). Der Verein zahlte das Material. Den Ausbau macht jeder selbst.
Nach dem Kauf sind größere Baumaßnahmen geplant, etwa die Zusammenlegung der Kleinstwohnungen zu WGs, Neueindeckung des Daches, Instandsetzung der noch nicht ausgebauten Räumlichkeiten.
Nachbarschaft und Stadtteil
Einerseits gibt es durch die vielfältigen niedrigschwelligen Aktivitäten (Lesecafé, Umsonstladen, Stadtteilgarten) ein gutes Verhältnis zu Teilen der Nachbarschaft. Gerade junge Leute nutzen das Kompott. Die Möglichkeit, das Kompott als Ort für Treffen zu nutzen, spricht einige Bewohner und Geflüchtete aus der Nachbarschaft an.
Andere Teile der Nachbarschaft haben wenig Verständnis für das Projekt. Streitpunkt sind dabei immer wieder die buntbemalte Fassade („Schandfleck!“) und Konflikte um die Lautstärke bei Veranstaltungen.
Mehrfach haben Gruppen von Neonazis das Kompott angegriffen und versucht, sich gewaltsam Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Schutz bieten vergitterte Fenster im Erdgeschoss und eine erhöhte Wachsamkeit an Tagen rechtsradikaler Demonstrationen in der Stadt.
Stolpersteine
Teilweise schwieriges Verhältnis zu Verwaltung und Wohnungsgesellschaft.
Die lange Anlaufzeit ist auch darauf zurückzuführen, dass das Bemühen um selbstverwaltete Experimentierräume von Politik und Verwaltung lange als Störfaktor wahrgenommen wurde. In der Stadtpolitik überwiegt mittlerweile der Blick auf die Chancen solcher Projekte. StädtischeWohnungsbaugesellschaften hingegen wirtschaften i.d.R. rein gewinnorientiert und sind kaum für alternative Handlungsmaximen zu gewinnen. Hier war eine klare Anweisung durch die Politik erforderlich.
Die Spannung zwischen den Ansprüchen nach Selbstverwaltung und Offenheit einerseits und nach Kontinuität im Projekt andererseits wird die Gruppe voraussichtlich auch in Zukunft beschäftigen.
Der konservativen sächsischen Gesellschaft, Verwaltung und Politik sind alternative linke Experimentierräume teilweise ein Dorn im Auge. Das sichert dem Kompott einen Eintrag im Jahresbericht des sächsischen „Verfassungsschutzes“. Rechtskonservative Ratsfraktionen bemühten sich daraufhin (erfolglos) im Jahr 2015, die Verhandlungen der Gruppe um das Gebäude zu torpedieren.
Wen oder welche Unterstützung brauchen wir noch?
Eine größere Akzeptanz der Chemnitzer Stadtgesellschaft und der lokalen Bevölkerung wäre eine große Unterstützung. Helfen würde schon das Bewusstsein, dass solche alternativen Projekte ihre Daseinsberechtigung haben.
Links & Downloads
Autoren: Michael Stellmacher, Hannes Heise