WOGE Nordstadt eG Hannover

Mit Selbsthilfe gemeinschaftliches Wohnen und Arbeiten schaffen

„Wir waren die Unbequemen in der Nordstadt“ – Brigitte Nieße, Stadtplanerin und Mitbegründerin der Wohnungsgenossenschaft WOGE Nordstadt eG lacht verschmitzt, als sie sich an die ersten Diskussionen und Aktionen erinnert. „Wir haben zu allem eine andere Meinung gehabt“, sagt sie nicht ohne Stolz, denn die WOGE, die Ende der 80er Jahre aus einer Mieterbewegung heraus gegründet wurde, hat sich bis heute zu einem etablierten Akteur im sozialen Wohnungsbau in Hannover entwickelt.

Dabei gab es damals im Stadtteil eigentlich gar nicht viel zu lachen. Als 1987 das Sanierungsgebiet Nordstadt festgesetzt wurde, war die Situation im Stadtteil miserabel. Viele Gebäude in dem Wohn- und Industrieviertel aus der Gründerzeit standen leer, die Arbeitslosigkeit war hoch. Das Interesse an dem Quartier war gering, für die Industriebrachen fanden sich keine Investoren. Wohnhäuser hingegen wurden aufgekauft, saniert und die Wohnungen anschließend zu weit höherem Preis vermietet. Wie in vielen Städten begann auch hier ein Kahlschlag modernisierungsbedürftiger Gebäude, der unter anderem zahlreiche Hinterhäuser traf, die radikal abgerissen werden sollten. Für viele Bewohner bedeutete diese Entwicklung das Aus. „Da haben wir gesagt, so lange es Leute gibt, die kein Geld haben, kann man keine Häuser abreißen“, sagt Brigitte Nieße. „Wir“, das war eine Gruppe Mieter aus verschiedenen Häusern, die die Entwicklung im Stadtteil nicht einfach hinnehmen wollten. Zu dieser Gruppe gehörten Leute, die im Stadtteil aktiv waren, sich politisch engagierten. Unter ihnen waren junge Architekten, Stadtplaner wie Brigitte Nieße, Klaus Habermann-Nieße, Friedhelm Birth, aber auch Anwälte und Sozialarbeiter, die in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Agsta in Hannover Nordstadt begannen, von der Sanierung betroffene Mieter zu beraten. „Die meisten sind ja erst gekommen, als die Sache rechtlich für sie schon gelaufen war“, entrüstet sich Brigitte Nieße noch im Nachhinein. So blieb es nicht bei der Beratung, sondern es entstand die Idee der Genossenschaft, um in größerem Maßstab bezahlbare Wohnungen und Arbeitsräume für Bewohner zu schaffen, die aufgrund ihres geringen Einkommens sonst angesichts drastischer Mieterhöhungen und der Umwandlung in Eigentum keine Chance hätten. Als Alternative zu traditionellen Trägern sollte die Genossenschaft die Sanierung des Stadtteils aktiv mitgestalten. 200 bis 300 Wohnungen waren dabei von Anfang an das Ziel.

Doch wie Sanierung und Modernisierung finanzieren für Menschen, die über keinerlei Eigenkapital verfügen?

Die Grundidee für die Finanzierung: Einerseits sollten Mitglieder und Fördermitglieder mit ihren Einlagen für eine erste finanzielle Basis sorgen. Andererseits sollte das fehlende Eigenkapital bei den Projekten in Form einer „Muskelhypothek“ gestellt werden, also durch Eigenarbeit der zukünftigen Bewohner erbracht werden.

Mit Aktionen wie dem Verkauf von Rosen zu je 1.000 D-Mark auf Stadtfesten machte die Gruppe auf sich aufmerksam und versuchte, Unterstützer und erste Mitglieder zu werben. Bei der Gründungsversammlung am 1. Juni 1988 kamen 60 Fördermitglieder zusammen, die jeweils einen Genossenschaftsanteil von 1.000 D-Mark zu zeichnen bereit waren. Die Unterstützung war groß, besonders auch von Leuten, die selbst gar nicht in den zukünftigen Genossenschaftswohnungen wohnen wollten, sondern einfach die Idee gut fanden. Auch aus der Politik kam Unterstützung. Doch auf den Gründungserfolg folgten vier äußerst schwierige Jahre. „Es war eine zermürbende Zeit“, erinnert sich Klaus Habermann-Nieße, „Die Leute waren motiviert, wollten loslegen, doch es gab noch gar kein Haus! Zugleich nahm uns der Genossenschaftsverband nicht ernst. Die sagten ,Wie wollt Ihr Genossenschaft werden, wenn Ihr kein einziges Haus habt?‘“ Dennoch gelang es, dass die WOGE Nordstadt eG am 8. Februar 1989 in das beim Amtsgericht Hannover geführte Genossenschaftsregister als Wohnungsgenossenschaft eingetragen wurde.

Parallel, und zeitweilig nicht unbedingt imagefördernd, gerieten sie als wohnungspolitischer Akteur in den Konflikt um die besetzten Häuser auf dem Sprengel-Gelände in der Nordstadt. Die WOGE versuchte, zwischen Stadt und Besetzern zu vermitteln. Das Paradoxe dabei: „Keiner hat uns gemocht. Für die Sprengelbesetzer waren wir zu bürgerlich, für die Stadt waren wir zu nah an den Besetzern“, lacht Klaus Habermann-Nieße. Am Ende hat es trotzdem geklappt. Nach vielen Jahren mit Straßenkämpfen und den sogenannten „Chaostagen“ bekamen die Besetzer 1995 ihren Mietvertrag und der Vorstand der WOGE hatte sich einmal mehr als kompetenter, ernst zu nehmender Gesprächspartner ausgewiesen.

Nur mit den eigenen Häusern dauert es. Das erste Wohnhaus, das die WOGE 1990 für eine Selbsthilfe-Modernisierung erwerben konnte, glich eher einer Ruine und erforderte viel Phantasie, um es sich als Wohnhaus vorzustellen. „Ohne die ersten, sehr engagierten Bewohner hätte es die WOGE nie gegeben“, sagt Klaus Habermann-Nieße. Die Eigenleistung war enorm, unzählige Stunden aller Beteiligten sowohl der zukünftigen Bewohner als auch der Architekten, Ingenieure, des Vorstands und sogar der Handwerker flossen in das Projekt, bei gleichzeitigem Verzicht auf Freizeit und Gehalt, stattdessen begleitet von vielen Diskussionsrunden. Kurz darauf folgte der Erwerb eines Wohngebäudes in der Warstraße von einer Eigentümerin, die dem Genossenschaftsgedanken zugetan war. „Die ersten Selbsthilfegruppen waren enorm wichtig. Sie waren sehr solidarisch und beide Projekte entwickelten durch den Erfolg eine große Strahlkraft.“ Zugleich bot sich den zumeist jungen Baufachleuten, wie zum Beispiel den Architekten, die Chance, erste eigene Projekte zu realisieren und so einen Berufseinstieg zu finden. Das Arbeiten für sehr kleines Geld ging aber nur, weil die meisten Beteiligten aus den eigenen Reihen kamen und vor allem die Idee mittrugen.

Es folgten weitere Projekte. Neben der Modernisierung mit Bewohnerselbsthilfe konnten Wohnungsneubauten mit Bewohnerselbsthilfe und Neubauten mit Integration von Jugendwerkstätten als Jugendwohnprojekt umgesetzt werden. Daneben war es möglich, Wohngebäude aus Privatbesitz zu übernehmen. Auch wurden bereits sanierte Wohnungen aus kommunalen Beständen übernommen, bei denen keine Selbsthilfearbeiten der Bewohner mehr notwendig waren. Mit dem Kauf dieser Bestände konnte die WOGE aber ihr Ziel weiterverfolgen, Wohnsicherheit für möglichst viele Bewohner der Nordstadt zu schaffen. Bei fast allen Projekten behielt die Stadt ein Belegungsrecht für B-Schein-Berechtigte. 2005 brachte eine Neuerung: Erstmals erwarb die WOGE Häuser als Dachgenossenschaft. Vorangegangen waren Verhandlungen zwischen dem Bewohnerverein „Putti nonstop e.V.“ und dem Land Niedersachsen als Grundbesitzer. Einiger Häuser in der Straße Am Puttenser Felde sollten verkauft werden, wogegen sich die Bewohner wehrten. Gemeinsam mit der WOGE konnte ein tragbares Finanzierungskonzept entwickelt werden. Die Häuser wurden an den Bewohnerverein zur Selbstverwaltung verpachtet und gemeinsam mit ihnen instandgesetzt.

Ab 2005 trat zudem das Thema der energetischen Modernisierung in den Vordergrund. Das Selbsthilfewohnprojekt Schneiderberg 17 wurde in diesem Zusammenhang als Modellvorhaben des proKlima-Fonds der Stadtwerke Hannover und der Deutschen Energieagentur (DENA) modernisiert. Bei dem letzten großen Selbsthilfemodernisierungsprojekt der WOGE, dem Wohngebäude Im Moore 35, wurden hohe Ansprüche an den Erhalt der schönen Gründerzeitfassade mit dem Anspruch an einen guten energetischen Standard erfolgreich zusammengebracht.

Auf der Grundlage der genossenschaftlichen Prinzipien wurde über jedes Projekt in der Mitgliederversammlung demokratisch entschieden. Der Vorstand entwickelte Projekte, stellte diese zunächst dem Aufsichtsrat für eine erste Runde vor und anschließend allen Mitgliedern in der Mitgliederversammlung. Für jedes Projekt war ein Vorstandsmitglied verantwortlich. Dieses begleitete das Projekt, trat als „Bauherr“ auf, kontrollierte die einzelnen Schritte und übernahm im Falle von Konflikten die Rolle des Moderators und Streitschlichters. „Das war immer so. Wenn sich die erste Anspannung gelegt hatte, nach den Baumaßnahmen die erste Ruhe eintrat, kamen die kleinen Alltagsstreitigkeiten“, erinnert sich Klaus Habermann-Nieße. Doch fast immer besannen sich alle Beteiligten auf das, was sie verbindet. Auch dafür setzt sich der Vorstand ein, denn ein gutes nachbarschaftliches Miteinander ist fast ebenso wichtig für eine funktionierende Genossenschaft wie solide gebaute Häuser.

Seit den Anfängen sind fast 30 Jahre vergangen. Heute hat die WOGE 400 Mitglieder, 229 Wohnungen, 13 Gewerbeeinheiten in 28 Gebäuden auf 22 Grundstücken. Sie ist als wichtiger wohnungspolitischer Akteur und als Genossenschaft in Hannover etabliert. Vorstand wie engagierte Mitglieder werden zu Stadtentwicklungsprojekten eingeladen und als wichtige Ansprechpartner geschätzt. Seit dem Ende des Sanierungsgebiets Nordstadt 2008 hat sich die Arbeit der WOGE allerdings stark geändert. Sanierung in Selbsthilfe mit Bewohnergruppen ohne Eigenkapital wird bis auf Weiteres nicht mehr möglich sein. Für Neubauprojekte verfügt die Genossenschaft über zu geringes Eigenkapital. Zugleich sind in der Nordstadt keine freien Bauplätze mehr vorhanden. So konzentriert sich die Arbeit auf Bestandsverwaltung, die Förderung des genossenschaftlichen Lebens und die Modernisierung der Gebäude mit Mitteln, welche die Genossenschaft selbst erwirtschaftet hat.

Seit einigen Jahren treten private Baugruppen an die WOGE heran. „Das sind Leute, die über Kapital verfügen, aber denen das Know-how fehlt und die daher gerne mit ihrem Projekt unter das Dach der Genossenschaft schlüpfen möchten“, erklärt Kirsten Klehn, ebenfalls Stadtplanerin und im Vorstand der WOGE. Zumal für viele Menschen Themen wie „Gemeinschaftliches Wohnen im Alter“ wichtiger werden. Doch zustande gekommen sind derlei Projekte noch nicht. Den neuen Projektansatz – Menschen, die über ausreichendes Eigenkapital verfügen, einzubeziehen – mit den bisherigen Grundsätzen der WOGE in Einklang zu bringen, erfordert ein Umdenken. Ziel der WOGE war und ist es, Wohnraum für Menschen zu schaffen und zu sichern, die über sehr wenig Geld verfügen. Hierauf gründet sich auch die ehrenamtliche Arbeit des Vorstands. Für die Integration von Baugruppenprojekten sind noch nicht die richtigen Regelungen gefunden, auch wenn Vorstand und Aufsichtsrat bereit sind, neue Wege zu gehen.

Angesichts knapper werdenden Wohnraums in den Städten sind Ideen für gemeinschaftliches Planen und Wohnen gefragt wie nie. Die Hauptaufgabe für die Zukunft besteht darin, neue Formen der Finanzierung zu finden. Eine Herausforderung, der sich die WOGE stellt.

Text: Kerstin Selle